Rechtsstaat versus Polizeistaat – Verfassungsblog – Cyber Tech

Maximilian Pichl, Legislation statt Order. Der Kampf um den Rechtsstaat, 2024.

Das Rechtsstaatsprinzip zielt, so eine klassische Formulierung des Bundesverfassungsgerichts, „auf die Bindung und Begrenzung öffentlicher Gewalt zum Schutz individueller Freiheit“ (BVerfG, Urteil v. 17.1.2017, 2 BvB 1/13, Rn. 547). In formeller Hinsicht geht es um verfahrens- und organisationsrechtliche Vorkehrungen in Type von Gewaltenteilung, Gesetzesbindung, Gesetzesvorbehalt, gerichtlicher Kontrolle exekutiven Handelns und Staatshaftung.1) Materiell folgen aus dem Rechtsstaatsbegriff darüberhinausgehende inhaltliche Bindungen der Staatsgewalt, vor allem an die Grundrechte und die Verhältnismäßigkeit.2) Dabei sind der formelle und materielle Rechtsstaatsbegriff nicht als Gegensatz zu verstehen, sondern komplementär im Sinne eines „materielle und formelle Elemente des Rechts vereinigende[n] Staat[s]“.3)

Der Rechtsstaatbegriff ist danach zugleich ein Strukturbegriff des Rechts und ein Abwehrbegriff, der die Grundrechte des Bürgers gegenüber dem Staat gewährleisten soll. Dies entspricht seiner Entstehungsgeschichte als Gegenbegriff zum vorkonstitutionellen Polizeistaat.4) Vor diesem Hintergrund irritiert die Berufung auf den Rechtsstaat, wenn es um die konsequente Durchsetzung staatlichen Zwangs, insbesondere mittels kriminalstrafrechtlicher Sanktionen, geht. Wird insoweit von Politiker:innen die „volle Härte des Rechtsstaats“ gefordert (zahlreiche Zitate bei Pichl, S. 12 f.), so wird damit der Rechtsstaatsbegriff, jedenfalls liberal verstanden (zu seiner Ambivalenz sogleich), auf den Kopf gestellt. Man sagt Rechtsstaat, aber meint Polizei. Eine Streitschrift, die jenen liberalen Gehalt des Rechtsstaatsbegriffs verteidigen will, die additionally statt „Legislation and Order“ „Legislation“ statt „Order“ fordert, hat deswegen ein berechtigtes Anliegen. Dabei beansprucht Pichl jedoch nicht nur, das liberale Verständnis des Rechtsstaats zu verteidigen, sondern will „zugleich seine Defizite … benennen“ und über dieses liberale Verständnis hinausgehen (S. 18). Er will die „Erosionen von Rechtsstaatlichkeit sichtbar“ machen, „dokumentieren“ und „wissenschaftlich“ einordnen (S. 227). Diesen Zielen wird die Schrift mit ihren sechs plakativ betitelten Kapiteln leider nur sehr bedingt gerecht. Die Kapitel sind von unterschiedlicher Qualität und Analysetiefe sowie mit Fortschreiten des Textual content mit zunehmend aktivistischem Impetus verfasst.

Allgegenwärtigkeit, Ursprung und Ambivalenz des Rechtsstaatsbegriffs

Der Rechtsstaatsrekurs ist allgegenwärtig („ubiquitär“) im politischen Diskurs, ebenso seine hier schon auffällige Umdeutung zu einem Kampfbegriff des Sicherheitsrechts (Kap. 1, S. 7 ff.). Pichls historische Herleitung („Ursprünge“, Kap. 2, S. 21 ff.) ist jedoch eklektizistisch und selektiv, teilweise auch zu vereinfachend, immerhin wird die Ambivalenz des Begriffs aufgezeigt: Während der Weimarer Republik als Antwort auf sozialistische Angriffe auf das bürgerliche Eigentum (S. 34),5) während des deutschen Herbstes als expansiver, aber eben zugleich auch begrenzender Begriff, wenn etwa Helmut Schmidt nach dem RAF-Überfall auf die deutsche Botschaft in Stockholm äußerte, dass man zum Schutz des Rechtsstaats „an die Grenzen, dessen zu gehen“ bereit sein müsse, „was im Rechtsstaat erlaubt ist“ (S. 45). Dies deutet einerseits (rechtsstaatliche) Härte an, aber andererseits werden (rechtsstaatliche) Grenzen anerkannt. Erlaubt ist „Härte“ im Rahmen des Rechtsstaats, was Begrenzung impliziert; im autoritären Polizeistaat gibt es „Härte“ ohne eine solche Begrenzung. Schon hier zeigt sich die Janusköpfigkeit des Rechtsstaatsbegriffs: die Staatsgewalt eingrenzend und zugleich gewährleistend (voraussetzend).6) So sieht es auch Pawlik (FAZ, 28.5.24, 10) in seiner sehr kritischen Rezension Pichls: „Härte im Rechtsstaat“ dürfe nie „Selbstzweck“ sein, „sondern nur in normativ vielfältig eingehegter Weise geübt werden…“. Auch Rath betont in seiner – ebenfalls kritischen – Auseinandersetzung mit Pichl die Ambivalenz des Rechtsstaatsbegriffs: Die ihm immanente “Herrschaft der Gesetze” schließe „eine harte und konsequente Anwendung derselben nicht von vornherein aus …“. Auch die von Pichl zitierten Gewährsleute differenzieren. Böckenförde sieht im Rechtsstaat einen „vagen und nicht ausdeutbaren Schleusenbegriff[es]“, der „offen“ ist „für das Einströmen sich wandelnder Staats- und verfassungstheoretischer Vorstellungen und damit auch für verschiedenartige Konkretisierungen“;7) für Pichls Lehrer Frankenberg „teilt der Rechtsstaat die Unbestimmtheit des Grundsätzlichen“ und es handelt sich, wie für Böckenförde, um einen „vagen, deutungsoffenen Begriff“, der unterschiedlich „beschreibbar“ und modifizierbar ist.8) Schmidt-Aßmann, von Pichl nicht zitiert, meint den Begriff „nicht auf einen einfachen definitorischen Nenner“ festlegen zu können, denn er bestehe „aus Schichten unterschiedlicher Struktur und Konsistenz …“.9)

Gleichwohl kann man sich natürlich, wie auch ich, zu einem dezidiert liberalen Rechtsstaatsbegriff in aufklärerischer Custom, ganz wie das Bundesverfassungsgericht im Sinne des eingangs zitierten Urteils, bekennen. Auch Böckenförde tut dies letztlich, wenn er am Ende seiner Entstehungsgeschichte des Rechtsstaatsbegriffs – vom vernunftrechtlich begründeten zum formellen und materiellen Rechtsstaatsbegriff – „die Begrenzung und Eingrenzung staatlicher Macht und Herrschaft im Interesse der Freiheit der Einzelnen“ betont.10) Bei Frankenberg liest man vom „grundrechtlich eingehegten Rechtsstatus der Individuen“,11) Schmidt-Aßmann betont die „vorrangig … staatseingrenzende Bedeutung“ des im 19. Jahrhundert erkämpfte[n] … Staat des Individualismus …“.12) Man darf aber nicht, wie Pichl, so tun, als ob es nur dieses liberale Rechtsstaatsverständnis gäbe und über die Ambivalenz des Begriffs nonchalant hinweggehen.

Die diskursive Entwicklung von den 1970er Jahren bis in die Gegenwart, ausgelöst durch terroristische Bedrohung und Migrationskrise, lässt sich einfach beschreiben und trägt eine nostalgische Grundstimmung der Argumentation, wonach es den nichtautoritären Rechtsstaat in der alten Bundesrepublik noch gab, jedenfalls als Möglichkeit in sich. Komplexer aber und damit analytisch ergiebiger ist die Frage, wie sich die materiale Umdeutung des Rechtsstaatsbegriffs im Totalitarismus zum Begriff selbst verhält, konkret: Die Propagierung des Rechtsstaats als nationalsozialistischer „Weltanschauungsstaat“13) bei Carl Schmitt und anderen. Schon Schmitt störte sich weniger am Rechtsstaat als an der Besetzung des Begriffs durch Liberale; ihm ging es letztlich um die Ersetzung des liberalen durch einen nationalsozialistisch-materialen Rechtsstaatsbegriff,14) additionally die Bestimmung des Rechtsstaatsbegriffs vom Nationalsozialismus her anstatt dessen Einhegung durch liberale Rechtsstaatlichkeit.15) Schmitt sagte Rechtsstaat und meinte: Exklusion. Es kommt insofern immer auf die Gegenbegriffe an, in Schmitts Fall: Liberalismus, Parlamentarismus, Grundrechte.

Hier schließen heute alle Arten autoritärer Bewegungen an, nicht nur die sog. Neue Rechte,16) auf die sich Pichl alleine fokussiert (insbesondere S. 123 ff.). Darin zeigt sich nicht nur seine (politische) Blickverengung (auf die wir zurückkommen werden) und, gewichtiger noch, seine fehlende, theoretische Durchdringung zentraler Begriffe der Rechtsstaatsdiskussion. Carl Schmitt, dem ideengeschichtlichen Übervater des autoritären Verfassungsrechts, kann man, zugegebenermaßen, in einer solchen Schrift kaum gerecht werden, aber die „Positivismuslegende“ lässt sich nicht durch bloße Affirmation unter Verweis auf eine Quelle17) widerlegen (S. 36). Schon der Begriff verstellt den Blick darauf, dass der Ursprung des Streits auf Radbruchs Positivismus- bzw. Wehrlosigkeitsthese zurückgeht,18) die ihn selbst an gleicher Stelle zur Abkehr seiner positivistischen Grundhaltung durch die sog. Radbruchsche Formel geführt hat.19) Auch wenn diese These deshalb als Legende gelten muss, weil der Nationalsozialismus tatsächlich den ihn hemmenden Positivismus bekämpft hat20) und sich zu seiner Überwindung vor allem auch die teilweise durchaus gesetzeskritische Richterschaft durch Rückgriff auf ein rassisch völkisch pervertiertes “Naturrechtsdenken” dienstbar gemacht,21) so hat doch die Möglichkeit der Bindungswirkung des sog. Führerbefehls eine grundpositivistische Annahme zur Voraussetzung, nämlich dass alleine die Tatsache der Normproduktion des höchsten Staatsorgans eine solche Bindungswirkung – jenseits materieller Legitimation – herbeiführen kann.

Auch Pichls Ausführungen zum Rechtsstaat als patriarchalisches und rassistisch-koloniales Exklusionsprojekt (S. 25 ff.) überzeugen nur bedingt. Die Bezeichnung der Kolonialherrschaft als „schrankenlose[n] Gewalt- und Willkürherrschaft“ (S. 28) wird der Komplexität des Kolonialrechts nicht gerecht. Natürlich conflict die Kolonialherrschaft in weiten Teilen gewalttätig und willkürlich, sie conflict aber nicht rechtlos im formellen Sinne; das zeigt schon die sog. Schutzgebietsgesetzgebung und die kontroverse Diskussion dazu inner- und außerhalb des Reichstags.22)

Umdeutung!?

Die “Umdeutung“ (Kap. 3, S. 65 ff.) von einem Rechtsstaat zu einem Legislation and Order Diskurs will Pichl an ausgewählten Beispielen deutlich machen. In der Asyl- und Migrationspolitik dient die Berufung auf den Rechtsstaat – quer durch alle politischen Parteien – dem Ruf nach konsequenter Durchsetzung von Abschiebung und Ausweisung – ungeachtet völker- und menschenrechtlicher Grenzen im Rahmen einer Einzelfallprüfung (wohltuend differenzierend Thym). Einzelfälle wie die zunächst gescheiterte Abschiebung eines Togolesen in Ellwangen in 2018 (S. 69 ff.) oder die jüngste Debatte anlässlich der Straftat eines Afghanen in Mannheim haben gemeinsam, dass Politiker:innen aller Couleur lautstark Konsequenzen fordern, bevor sie überhaupt genauere Informationen zu den betreffenden Vorfällen haben (treffend zum Mannheimer Fall Fischer). Zu Recht kritisiert Pichl in diesem Zusammenhang die populistische Rhetorik einer „Verwirkung des Gastrechts“, als ob ein solches den asyl- bzw. ausländerrechtlichen Standing von Migrant:innen zutreffend erfassen würde und ohne weiteres per staatlicher Anordnung oder öffentlicher Empörung als „verwirkt“ erklärt werden dürfte. Die „Verwirkung“ bestimmter Grundrechte, einschließlich des Asylrechts, kann alleine vom Bundesverfassungsgericht ausgesprochen werden und nur dann, wenn diese Rechte zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbraucht wurden (Artwork. 18 GG).

Auch die Gleichsetzung der Polizei mit dem Rechtsstaat (neue Stellen für die Polizei im Rahmen des sog. Pakts für den Rechtsstaat, S. 83 ff.) kann man kritisch sehen, weil hier der populistische Rechtsstaatsbegriff am offenkundigsten mit seinem Ursprung als Anti-Polizeistaatsbegriff in Konflikt gerät. Versteht man den Rechtsstaatsbegriff aber im o.g. Sinne als janusköpfig, so kommt der Polizei die Gewährleistungsfunktion – Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols – zu.23) Der Gegenbegriff zu Polizei ist eben nicht nur Freiheit, sondern privatisierte und damit ungleiche Sicherheit. Wieder zeigt sich additionally, dass alles vom Verständnis des Rechtsstaatsbegriff abhängt. Ein „Generalverdacht“ gegenüber der Polizei als „Wesensmerkmal der Demokratie“ (S. 88) geht aber jedenfalls zu weit. Natürlich muss man die Polizei (auch) einer externen Kontrolle unterwerfen,24) weil sie wie jedes autopoetische System missbrauchsanfällig ist und, gravierender noch, im Namen des staatlichen Gewaltmonopol Zwang ausübt. Dabei kommt es – wie könnte es anders sein – auch zu Straftaten (zur Körperverletzung im Amt s. insoweit das entsprechende DFG-geförderte Forschungsprojekt25)). Diese haben aber selten strafrechtliche Konsequenzen, ganz anders als jegliche, noch so leichte Widerstandshandlung des Bürgers, die regelmäßig eine Anzeige wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 StGB)26) oder gar eines tätlichen Angriffs (§ 114 StGB) zur Folge hat – ein Beleg für die problematische einseitige Definitionsmacht der Polizei im Rahmen eines regelmäßigen komplexen und dynamischen Konfliktgeschehens.27) Gleichwohl kann niemand vernünftigerweise die Abschaffung der Polizei fordern, anders als etwa die des Verfassungsschutzes (Steinke), über dessen Effektivität man trefflich streiten kann: Schutz vor den realen Gefahren für die rechtsstaatliche Demokratie oder Überwachung zulässigen zivilgesellschaftlichen Protests?28) Dabei hat allerdings die Instrumentalisierung des Rechtsstaatsbegriffs im polizeistaatlichen Sinne schon längst, wie von Pichl selbst anerkannt, das gesamte politisches Spektrum erfasst. Es geht hier additionally längst nicht mehr um rein „konservative Umdeutungen“ (S. 100).29)

Ebenso kritikwürdig ist die polizeilich-populistische Wortschöpfung der Clankriminalität (S. 101 ff.), denn dieser Begriff lässt sich nicht sicher definieren und leistet einer diffusen kollektiven Kriminalisierung auf ethnisch-abstammungsbasierter Grundlage Vorschub (Wegner). Steht dahinter aber immerhin ein reales Phänomen organisierter Kriminalität im Rahmen großfamiliärer Strukturen (Struck et al.), so stößt die Überkriminalisierung (§ 129 StGB) und Stigmatisierung („Klima-RAF“) der Klimaschutzbewegung (S. 129 ff.) zum einen auf verfassungsrechtliche Bedenken, hat doch das Bundesverfassungsgericht in seinem Klimaschutzbeschluss eine „objektivrechtliche Schutzverpflichtung“ des Staates „auch in Bezug auf künftige Generationen“ (LS 1) anerkannt und lässt deren unzureichende staatliche Umsetzung (Groß) zivilgesellschaftlichen Protest als durchaus legitim erscheinen. Andererseits ist diese kriminalisierende Stigmatisierung auch gesellschaftspolitisch kontraproduktiv, weil sie zu einer Radikalisierung an sich legitimen Protests führen kann (Bönnemann, Höffler, Höffler).

Kaperung des Rechtsstaats durch Extremisten?

Die von Pichl sodann konstatierte „Usurpation“ des Rechtsstaats (Kap. 4, S. 123 ff.) ist allerdings keineswegs nur ein „rechtes“ Phänomen. Das folgt schon aus der Tatsache, dass sich excessive Denker:innen häufig gegenseitig befruchten, wie von Pichl selbst bezüglich des neurechten Vordenkers Alain de Benoist, der sich auf den Kommunisten Antonio Gramsci bezogen hat, anerkannt (S. 131 f.). Schon 1932 hat Karl Loewenstein in seiner Streitschrift für die liberale Demokratie sowohl Bolschewismus als auch Faschismus als deren Feinde ausgemacht.30)

Was den von Adorno erhobenen Vorwurf der „Theorielosigkeit“ rechter Bewegungen angeht,31) so wird er schon, wenn er überhaupt jemals richtig conflict (Carl Schmitt!), durch die These der Usurpation selbst widerlegt. Denn wie kann es den „Rechten“ gelingen, den Rechtsstaat ohne jegliche Theoretisierung zu kapern? Weil es diese gibt,32) muss man den „Rechten“ mehr entgegensetzen, als es die deutsche Journaille in der Regel tut – peinlichstes Beispiel wohl Maximilian Krahs Vorführung von Tilo Jung. Es bedarf auch mehr als die von Pichl gelieferte Aneinanderreihung von Zitaten und undifferenzierten Angriffen. Man kann nicht den ehemaligen brasilianischen Präsidenten Bolsonaro wegen seiner (von Pichl nicht belegten) Versuche, das brasilianische Verfassungsgericht „auf Linie zu bringen“, kritisieren (S. 129), ohne die gleichen Versuche seines „linken“ Nachfolgers Lula da Silva auch nur zu erwähnen.33) Man kann nicht „Ordnung“ als Zentralbegriff der Neuen Rechten anführen (S. 134), ohne ihn in Beziehung zu Schmitts konkretem „Ordnungsdenken“ zu setzen.34) Man kann nicht die Nutzung des Rechtsweges durch die „Rechte“ als „strategische Prozessführung“ delegitimieren (S. 162), wenn man eine solche vermeintlich „linker“ Gruppierungen, zum Beispiel des ECCHR oder der Gesellschaft für Freiheitsrechte, für legitim („strategische Rechtskämpfe“) erachtet (S. 241) – einmal ganz abgesehen davon, dass „Strategic Litigation“ heute worldwide gang und gäbe ist (vgl. nur Jeßberger/Steinl und Kleinlein, 575).

Ebenso wenig kann man der AfD den Gang nach Karlsruhe verwehren, wenn aus ihrer Sicht die Bundes- oder eine Landesregierung ihre Neutralitätspflicht verletzt hat. Dabei geht es eben nicht um „Äußerungsdelikte von Regierungsmitgliedern“ (S. 164), sondern schlicht und einfach um die Einhaltung demokratischer Spielregeln, auf die natürlich auch eine rechtsextreme Oppositionspartei pochen darf (solange sie nicht vom Bundesverfassungsgericht verboten wurde). Auch die von Verfassungsrechtler:innen geäußerte Kritik an der Flüchtlingskrise 2015 kann nicht mit deren Alter und/oder zu konservativen Ansichten abgetan werden (S. 166 ff.). Das sind bloße advert personam Argumente,35) die die Sachfrage – ob etwa die Außengrenzsicherung nicht zum Kernbestand der Staatlichkeit gehöre und mit ihrer Aufgabe nicht doch ein effektiver Kontrollverlust einhergeht36) – unbeantwortet lassen.

Europarechtlicher Umbau?

Auch Pichls europarechtliche Kritik (Kap. 5, „Umbau“, S. 175 ff.) hätte etwas mehr Tiefgang und eine größere Differenzierung gutgetan (krit. auch Rath): Die Kritik an Ungarn und Polen ist altbekannt und bleibt oberflächlich; die „Angriffe auf die europäische Gerichtsbarkeit“ (S. 217) werden auf solche gegen den EGMR reduziert, doch Pichl bleibt auch hier zu allgemein: die „progressive“ Rechtsprechung des EGMR (welche?) werde durch die „Berufung reaktionärer Richter:innen“ unterlaufen (S. 220). Die schwierige Frage der extraterritorialen Bindung an die EMRK und der entsprechenden Zuständigkeit des EGMR – ein klassisches Drawback der Menschenrechtsdogmatik37) – kann nicht durch den Verweis auf die Hirsi-Entscheidung erledigt werden (S. 218).

Erst später nennt Pichl – in einem Anflug von Differenzierung – die „Kritik an der EU verkürzt“ (S. 238), doch er selbst hat einige Seiten vorher zu dieser Verkürzung – durch seinen Fokus auf den ineffizienten Rechtsstaatsmechanismus gegenüber Ungarn und Polen – beigetragen.

Utopie oder Dystopie?

Es bleibt die „Utopie“ eines „kommenden“ Rechtsstaats (Kap. 6, S. 223 ff.). Das überrascht zunächst, denn Pichl hat, soweit ersichtlich, den (wohl noch) existierenden Rechtsstaat weder abgeschafft noch für überholt oder überwunden erklärt. Tatsächlich scheint es ihm auch weniger um einen zukünftigen Rechtsstaat als vielmehr um eine Änderung der Herrschaftsverhältnisse durch eine „sozialistische“ (S. 229, 240) bzw. „sozial-ökologische“ Transformation (S. 243), die durch gesellschaftliche Bündnisse und Allianzen erreicht werden soll, zu gehen. Das ist alles nicht neu – teilweise erinnert es an die Diskussion der 1960er Jahre – und hat allenfalls indirekt mit dem Rechtsstaat zu tun. Es ist auch bemerkenswert, dass eine Schrift, die den Vorwurf der Theorielosigkeit erhebt, selbst mit dem antiautoritären Argumentenbaukasten des reformierten Sozialismus der Mitte des 20. Jahrhunderts aufwartet und von neueren rechtswissenschaftlichen Debatten über rule of legislation und Sicherheitspolitiken nur in Aperçus Notiz nimmt.

Wie dem auch sei, Pichls „Utopie“ ist so allgemein und diffus, dass man keine Sorge haben muss, dass daraus irgendwann einmal Realität – oder gar eine Dystopie – werden wird. Es soll wohl die Hoffnung auf einen kommenden Rechtsstaat geweckt werden, der über den existierenden Rechtsstaat – kraft neuer Herrschaftsverhältnisse – hinausgehen wird.

Fazit: Third mission at its greatest?

Pichls Anliegen verdient, wie schon eingangs gesagt, Sympathie, denn der Rechtsstaatsbegriff wird zunehmend zum sicherheitspolitischen Kampfbegriff, um Härte gegen vermeintliche Straftäter (rechtsstaatlich) zu legitimieren, vor allem gegen solche mit Migrationshintergrund, ja sogar protestierende Dissidenten (man denke nur an die sog. pro-palästinensischen Proteste, s. hier, und den inzwischen berühmt-berüchtigte Slogan „From the River to the Sea …“, s. Ambos). Pichl verdient auch Lob für das Bemühen, einen lesbaren Textual content für Nicht-Fachleute (nicht Jurist:innen) geschrieben zu haben, eine heute durchaus erwünschte Vermittlungsleistung gerade von Wissenschaftler:innen traditioneller Universitäten.

Die Grenze zwischen dieser sog. Third Mission, die jedenfalls wissenschaftlichen Maßstäben zu genügen hat, und unwissenschaftlichem Aktivismus ist allerdings fließend und Pichl überschreitet sie häufig zu Lasten der Wissenschaftlichkeit. Leser:innen und Rezensent:innen ohne wissenschaftlichen Anspruch mögen das als Vorteil ansehen,38) aus Sicht einer ergebnisoffenen Wissenschaftlichkeit muss es aber, wie hier dargelegt, Kritik hervorrufen. Es hat ihm sogar den Vorwurf eines manichäischen Weltbilds eingebracht (Pawlik, FAZ, 28.5.24, 10). Das magazine man seinerseits für überzogen halten (ebenso wie die vernichtende Kritik Pawliks, dass ein solches Buch „überflüssig“ sei), jedenfalls verstellt fehlende Objektivität und Differenziertheit aber den Blick auf die Komplexität eines Issues und kann der „Komplexität der Wirklichkeit“ (Pawlik, a.a.O.) damit letztlich nicht gerecht werden. Konkret: Wer die Gefahr für den Rechtsstaat durch autoritären Extremismus nur von rechts sieht, verstrickt sich in Wertungswidersprüche und erweist dem Rechtsstaat einen Bärendienst. Denn einseitige, undifferenzierte und übertriebene Kritik erlaubt den Rechtsstaatsfeinden sich zu vermeintlichen Opfern politischer Verfolgung zu stilisieren („witchhunt“) und trägt letztlich zu ihrer Immunisierung gegen berechtigte und notwendige Kritik bei.

Ich danke meinem Göttinger Kollegen Florian Meinel für wichtige Anregungen.

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